Um Wollen geht’s nicht, um Können schon

Verzeihen ist ein großes Wort und wird in unserer Gesellschaft meist mit ebenso großen und schwerwiegenden Verletzungen verbunden. Ich bin jedoch der Meinung, dass Verzeihen nicht nur im Rahmen von tiefgreifenden Narben, die uns zugefügt wurden, eine sehr zentrale und wirkungsvolle Rolle spielen kann, sondern auch in ganz alltäglichen Situationen.

Dies wird offensichtlich, wenn wir uns einmal bewusst darauf achten, wie oft wir uns von unseren Mitmenschen im Alltag nicht verstanden, in unseren Bedürfnissen nicht gesehen oder ungerecht behandelt fühlen: Die Nachbarin, die schon wieder nicht oder subtil grimmig grüßt, obwohl wir uns selbst stets um Freundlichkeit bemühen; der Kollege, der sich das zweite Mal in Folge mit fremden Lorbeeren schmückt, indem er dem Chef unsere eigene Idee als die seine präsentiert; oder unsere Liebsten, die uns gerade mal nicht so viel Wertschätzung entgegenbringen, wie wir das gefühlt verdient hätten. Es sind also ganz normale, alltägliche Geschehnisse, bei denen wir, je nach Verfassung, schon mal ordentlich wütend, frustriert oder traurig werden können über die besagten Verursacher. Und da wir andere nicht ändern können, liegt im Verändern unseres Mindsets ein großes Potenzial: Verzeihen ist in diesem Zusammenhang ein sehr wirkungsvolles Tool, um im besagten zwischenmenschlichen Zusammenspiel den eigenen inneren Frieden zu stärken.

Diesen inneren Frieden stärken wir, indem wir uns von der Annahme lösen, dass der andere sich uns gegenüber nicht wohlwollend verhält, weil er dies nicht will. Ganz im Gegenteil gehen wir im Rahmen dieses Ansatzes davon aus, dass er nicht kann. Dies kann unterschiedliche Gründe haben und reicht von Unbewusstheit über persönliche Defizite bis hin zu inneren Begrenzungen. Um die Gründe geht es auch gar nicht, sondern lediglich darum, dass wir uns bewusst machen, dass hinter jedem Verhalten ein vollgepackter Rucksack steckt mit Erfahrungen, Prägungen, Konditionierungen, Mustern, Begrenzungen und vielem mehr. Es geht hier also nicht um nicht wollen, sondern um nicht können.

An dieser Stelle meldet sich natürlich diese fiese innere Stimme, die lautstark nach Gerechtigkeit ruft und danach, den anderen und sein ungerechtes Verhalten nicht einfach unter dem Deckmantel «Unfähigkeit» davonkommen zu lassen. Richtig! Die Frage in diesem Zusammenhang ist einfach, wie viel Sinn es macht, gegen Unfähigkeit anzukämpfen. Und Fakt ist, dass wir durch die Annahme, dass unser Gegenüber nicht anders kann, vor allem uns selbst etwas Gutes tun. So ist Verzeihen ein Akt von purer Selbstliebe, durch dessen Schritt wir in die Selbstermächtigung kommen und uns von schlechten Gefühlen befreien, indem wir uns erlauben, glücklich zu sein, unabhängig davon, wie uns andere behandeln. Und so sind es am Ende wir selbst, die von diesem Prozess am meisten profitieren, indem wir innerlich Frieden schließen können.

Und natürlich bedarf es bei großen, tiefgreifenden Verletzungen im Rahmen eines Verzeihungsprozesses mehr als lediglich diesen Mindsetwechsel, jedoch ist dieser Ansatz ein bewährter Anfang und ein souveräner Umgang für all die kleinen zwischenmenschlichen Ärgernisse im Alltag, die uns potenziell unseren Frieden rauben könnten.

Ich wünsche Dir viel Freude beim Ausprobieren!

Passend zum Thema >>>Verzeihungsarbeit, Selbstliebe leben

Passendes Zitat zum Thema >>> «Als ich verstanden hatte, dass Menschen dich nur so behandeln können, wie sie sich im Inneren fühlen, habe ich aufgehört Dinge persönlich zu nehmen.»